Angeblich kommen Ostdeutsche wegen ihrer Erfahrungen besser mit der Krise zurecht. Raj Kollmorgen sieht das anders. (Thüringer Allgemeine, 08.04.2020)
Das kenne ich aus der DDR, hört man von Leuten im Versuch, die gegenwärtige Versorgungslage zu beschreiben. Im Tagesspiegel vom 18. März 2020 lese ich: „Wende-Erfahrungen der Ostdeutschen helfen in der Krise“. Von Yana Milev, einer Kultursoziologin, wird die These berichtet, dass es im „Gesellschaftsumbauzwischen1990 und 1994 … ähnlich gewesen (sei) wie jetzt“. Eine „Strategie der Täuschung und Tarnung“ lasse sich damals wie heute als „zentrale Regierungsstrategie“ identifizieren (Blog „Das mediale Erbe der DDR“).
Man reibt sich die Augen. Woher und warum diese Vergleiche? Was, so fragt man sich, haben die Corona-Pandemie und ihre gesellschaftlichen Herausforderungen mit der DDR, den Transformationserfahrungen Ostdeutscher oder der Vereinigungspolitik nach 1990 zu tun? Ich fürchte deutlich weniger, als es den Protagonisten dieser Deutungsangebote lieb sein wird. Zugleich haben die zitierten Thesen viel, ja geradezu unheimlich viel mit dem Umbruch 1989 und der Vereinigungsgeschichte zu tun. Um dieses offenkundige Paradox begreifbar zu machen, lohnt es sich, die zwei angesprochenen Behauptungs- beziehungsweise Deutungsstränge etwas genauer zu betrachten. Im ersten Strang wird eine Erfahrungsparallelität zwischen dem DDR-Alltagsleben und den pandemisch verursachten Lebensbedingungen unterstellt. „Kein Obst und Gemüse in den Regalen, lange Schlangen vor Ämtern und Geschäften, keine Reisefreiheit – willkommen in der DDR! Was viele Menschen in der Corona-Krise erstmals als Entbehrung erleben, war Alltag für Millionen Menschen.“ (Robert Ide im Tagesspiegel vom 18. März 2020).
Ganz ähnlich beschreibt Judith Schalansky, eine in der DDR geborene und von mir hoch geschätzte Schriftstellerin, vor wenigen Tagen denErfahrungstransfer: „Sicherlich liegt es daran, dass ich in der DDR geboren bin, dass mir leere Supermarktregale,rationierte Lebensmittel, lange Schlangen und geschlossene Grenzen ebenso vertraut sind.“ (Süddeutsche Zeitung vom 31. März 2020).
Diese Aussagen sind doppelt verstörend. Zum einen war Robert Ide im Jahr der friedlichen Revolution erst 14 und Judith Schalansky gerade einmal neun Jahre alt, sodass für beide von einem „Vertrautsein“ mit der staatssozialistischen Plan- und Mangelwirtschaft nicht gut gesprochen werden kann. Den Beweis dafür liefern sie auch umgehend. Denn weder gab es in der DDR der 1980er-Jahre „kein Obst und Gemüse in den Regalen“ noch (als allgemeine Erscheinung) „rationierte Lebensmittel“. Die Beschreibungen Ides und Schalanskys haben wenig mit eigenem Erleben und Realitätserkenntnis zu tun. Vielmehr entfaltet sich in ihnen die Macht des herrschenden Erinnerungsdiskurses über die späte DDR. Ein Diskurs, der die staatssozialistischePlanwirtschaft als vollkommen gescheiterte Alternative zur sozialen Marktwirtschaft stilisiert, einschließlich des Zerrbildes eines umfassendenKonsummangels amRande einer systematischen Unterversorgung oder gar Unterernährung. Kaum weniger verstörend ist die Annahme, dass mit diesem Bild des Konsums in der DDR die gegenwärtige pandemische Lage sinnvoll verglichen und dadurch begriffen werden könne. Nicht nur, dass es heute offensichtlich nicht wenige Läden mit geringem Warenangebot, sondern viele volle, aber geschlossene Läden gibt. Diejenigen Geschäfte, die offen gehalten werden, zeigen – abgesehen von einer Handvoll Waren – keinerlei Angebotseinschränkung. Vom weiter florierenden Onlinehandel will ich gar nicht reden. Mir erscheint es grandios oder richtiger: konsumistischfehlgeleitet, die jetzige Lebensmittel-Versorgungslage mit irgendeinem ernsthaften Mangel oder substanziellen Verzichtin Verbindung zu bringen.Wer einen solchen erleben will, möge bitte, sobald es wieder erlaubt ist, nach Venezuela, Sambia oder Kuba fahren und sich dort in den Geschäften umschauen.
Der zweite Deutungs- und Behauptungsstrang setzt an den Umbruch- und Transformationserfahrungen der Ostdeutschen an und bescheinigt ihnen zunächst einen Vorteil im Umgang mit der Pandemie. Ältere Ostdeutsche seien, formuliert Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haselhoff in der Welt vom 30. März, „sturmerprobt, was Ausnahmesituationen betrifft“ und improvisationsfähiger als dieWestdeutschen. Ostdeutsche verfügen über die „Erfahrung, dass manhartePhasenüberstehenkann. Wir haben hier viele Hochs und Tiefs erlebt. Und viele Krisen bewältigt“. So so. Und die Westdeutschen erleben seit 1949 nur eitel Sonnenschein, baden im Wohlstand und kennen weder politische Krisen noch harten wirtschaftlichen Strukturwandel mit Massenarbeitslosigkeit und Verarmungsprozessen.
Basierten diese Urteilsbildungen nicht auf sozial erzeugter Wahrnehmungsverzerrung und tiefsitzenden Anerkennungsdefiziten gegenüber Ostdeutschen, müsste man laut auflachen. Sicher haben nach 1989/90 im Osten weit mehr Menschen, dabei rasanter und radikaler, einen Bruch ihrer System- und Lebenswelten erlebt und vielfach auch erlitten, als es im Westen, selbst in den bekannten Problemregionen (wie dem Ruhrpott) der Fall war. Dennoch verfügen auch im Westen breite Bevölkerungsschichten über substanzielle Krisen- und Wandlungserfahrungen, zumal die alte Bundesrepublik eine offenere, pluralere und insgesamt mobilere Gesellschaft war, die ihren Individuen einiges an Selbstverantwortung so wie an ziviler und solidarischer Selbstorganisation abverlangte. Die von Haselhoff und Ide geäußerte Überzeugung, dass es eher die Ostals die Westdeutschen seien, die nichtnurwegenderUmbrucherfahrung, sondern auch kraft ihrer „Improvisationskunst“, ihrer „Besonnenheit und Solidarität“ sowie ihres „Optimismus“ die Corona-Krise bewältigen könnten, bleibt daher in dieser Globalität und Exklusivität sachlich unbegründet und schlicht falsch.
Woher und wieso dann aber diese starke These? Die Betonung ostdeutscher Krisen- und Brucherfahrungen sowie daraus resultierender vorteilhafter Handlungskompetenzen antwortet explizit auf den herrschenden Diskurs nicht nur einer Generalabwertung der DDR, sondern auch Ostdeutscher und Ostdeutschlands nach 1989/90. Damals, nach dem „Beitritt“, waren sie die Unwissenden, Erfahrungsarmen, Unfähigen und Hilfebedürftigen, die angesichts der massiven Hilfe des Westens nicht ständig „jammernd“ auf ihre VerunsicherungenundLebensbrüche aufmerksam machen sollten. Diese Missachtungen und Kränkungen sind nicht vergessen.
Jetzt, in einer neuen globalen Krise kann das Verhältnis scheinbar umgedreht werden. Wir, die Ostdeutschen, sind nicht nur die Mangel- und Abschottungserprobten, sondern auch die Krisenerfahrenen und Transformationskompetenten. Schaut auf uns und lernt, wie eine tiefe Krise zu meistern ist. Es handelt sich mithin um den Versuch eines Gegendiskurses, einer Argumentations- undMachtumkehr,wobei durchaus ähnliche Bemühungen auch schon in früheren Krisen zu beobachten waren.
Grundsätzlich sind solche Änderungsversuche diskursiver und damit auch politischer Machtverhältnisse nicht nur verstehbar, sondern auch legitim. Wer andauernd Missachtung wahrnimmt, darf und soll sich wehren.
Problematisch wird es aber dann, wenn die Argumentationen des alten Diskurses lediglichaufdenKopf gestellt werden, so dass nun nicht länger die Ostdeutschen die Schwachen sind, sondern samt und sonders die Transformationserfahrenen, Besonnenen, Fähigen und Solidarischen – auch wenn das jetzt so wenig wahr ist wie vordem die Zuschreibung einer Unfähigkeit, Schwäche und Jammerei bei allen Ostdeutschen. Das beendet nicht etwa die deutsch-deutschen Vorurteile und Ungleichheiten, sondern befestigt sie weiter.
Problematisch ist an diesem Gegendiskurs aber auch, dass er dazu neigen muss, gesellschaftliche Krisen und Umbrüche herbeizusehnenoderdochalle strukturellen Dynamiken als solche zu diagnostizieren, weil die Ostdeutschen dieser Argumentation gemäß hier in ihrem Element und im Vorteil sind. So nachvollziehbar diese Neigung auch sein mag, sie ist – weil wahrnehmungsdeformierend – gefährlich, und sie tendiert zum Populismus, der Krisen und „Ausnahmesituationen“ liebt.
Allerdings ist auch hier ein überraschendes Paradox beobachtbar. Denn so sehr der Gegendiskurs das Suchen und Finden von Krisen und Transformationen verlangt, da sie das Feuer sind, in dem die Ostdeutschen zu den neuen Siegern geschmiedet werden, so sehr fürchten viele Ostdeutsche zugleich weitere radikale Umwälzungen. Denn es waren jene Krisen und Umbrüche in den letzten 30 Jahren, die sie – in ihrer Wahrnehmung – immer wieder als Verlierer zurückließen. Das gilt für die Arbeitsmarktkrise der späten 1990er-Jahre ebenso wie für die Finanzmarktkrise 2008/09 oder die Migrationskrise 2015/16.
Wie weit dieses paradoxe Suchen und Finden im coronalen Zusammenhang gehen kann, zeigt Yana Milev mit ihrer These eines „rechtsfreien Raumes“ und einer „zentralen Regierungsstrategie“ der „Tarnung und Täuschung“ in derfrühen Vereinigungspolitik (1990-1994), die sich jetzt in der Pandemie krisenhaft wiederhole. Hier wird aus dem Versuch einer gegendiskursiven Kritik des von oben und außen, das heißt von westdeutschen Eliten administrierten Vereinigungsprozesses in einem platten und begründungsfreien Analogieschluss eine verschwörungstheoretische Behauptung. Wer aber die intensiven Regierungs- wie politisch-öffentlichen Debatten zum Umgang mit der Corona-Epidemie derart umdeutet und anprangert, muss sich im Sog des ostdeutschen Missachtungs- und Umbruchbewusstseins mächtig verirrt haben.
Ciceros Sentenz „historia magistra vitae est“ (Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens) gilt eben im Vollsinne – wie immer schon – nur unter der Voraussetzung einer kritischen Selbstreflexion im eigenen Erkenntnisprozess.