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28. September 2021

Weit mehr als reine Deskription

Seit Juli ist Prof. Dr. Nadine Jukschat Professorin für Angewandte Soziologie an der HSZG. Im Interview stellt sie sich vor.

Kriminologie, Radikalisierung, Demokratieförderung im Strafvollzug. Das Forschungs- und Interessengebiet von Prof. Dr. phil. Nadine Jukschat ist breit. Seit dem 01.07.2021 ist sie an der Fakultät Sozialwissenschaften als Professorin für Angewandte Soziologie tätig. Im Interview skizziert die gebürtige Zittauerin ihre bisherige akademische Laufbahn sowie ihr Lehr- und Forschungsgebiet. Außerdem beschreibt die Expertin für Methoden empirischer Sozialforschung , was für sie qualitatives Forschen bedeutet und was sie sich für ihre Heimat wünscht.

Frau Prof. Jukschat, herzlich willkommen an der Hochschule Zittau/Görlitz und in unserer wunderschönen Dreiländerregion. Oder sollte man eher sagen: Willkommen zurück?

Vielen Dank! Ja, in der Tat bin ich biografisch und familiär mit der Oberlausitz tief verbandelt. Ich bin in Zittau und im Zittauer Gebirge aufgewachsen, meine Eltern und Schwiegereltern leben hier in der Region. Als Jugendliche war mir hier allerdings vieles zu eng und ich bin nach dem Abitur erstmal für ein knappes Jahr nach Australien gegangen. Danach habe ich in Leipzig studiert und am dortigen Institut für Kulturwissenschaften (kultur-)soziologisches Denken und die qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung für mich entdeckt. Dabei interessierten mich immer schon Themen im Kontext sozialer Probleme, Devianz und sozialer Kontrolle. Es ist also vermutlich nicht ganz zufällig, dass ich nach dem Studium am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) landete. Nach acht Jahren am KFN in Hannover wechselte ich ans Deutsche Jugendinstitut (DJI) in Halle, wo ich mich zuletzt viel mit Radikalisierung und gesellschaftlicher Polarisierung sowie den Möglichkeiten von Pädagogik und Sozialer Arbeit, ein demokratisches Miteinander zu stärken, beschäftigt habe. Und nun freue ich mich sehr auf die neue berufliche Aufgabe in der alten Heimat. Zumal ich wahrnehme, dass in den vergangenen Jahren hier vieles im Fluss ist. Und mit dem Strukturwandel auch große, sicher auch herausforderungsvolle gesellschaftliche Veränderungen bevorstehen, die es zu gestalten und auch wissenschaftlich zu begleiten gilt. Vielleicht kann ich ein wenig dazu beitragen.

Seit Juli sind Sie an der Fakultät Sozialwissenschaften als Professorin für Angewandte Soziologie tätig. Wie haben Sie die ersten Wochen im Sommer erlebt?

Ich bin sehr freundlich und herzlich von den Kolleg*innen begrüßt und aufgenommen worden. Natürlich ist es aufgrund der Pandemie sehr ruhig auf dem Campus, und noch dazu fiel mein Start ja in die vorlesungsfreie Zeit. Aber das gibt mir die Möglichkeit, ganz in Ruhe anzukommen und meine Lehre für das Wintersemester gründlich vorzubereiten. 

Was sind Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung?

Im Rahmen meiner Arbeit am DJI habe ich zuletzt (sozial-)pädagogische Modellprojekte der Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe wissenschaftlich begleitet. In diesem Zusammenhang habe ich mich auch viel mit den Bedingungen professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit beschäftigt. Dabei ist mir die Bedeutung von Reflexivität immer wieder sehr deutlich vor Augen geführt worden. Ich bin überzeugt, dass soziologisches Denken allgemein und die verstehende Haltung des qualitativ-rekonstruktiven Forschungsparadigmas im Speziellen für (angehende) Praktiker*innen Sozialer Arbeit, Pädagogik oder in anderen sozialen und politischen Organisationen hilfreich sind, wenn es darum geht, systematisch in Distanz zum Alltagshandeln zu treten, aber auch für das analytische Durchdringen sozialer Prozesse, Mechanismen und Zusammenhänge in den jeweiligen Handlungsfeldern. In meiner Lehre möchte ich daher einen Schwerpunkt darauf legen, gemeinsam mit den Studierenden soziologisches Denken und Methodenkompetenz für ihre Praxisfelder fruchtbar zu machen.

Mit Blick auf die Forschung möchte ich an meine Arbeiten zu politischer Sozialisation, (De‑)Radikalisierung und Demokratieförderung anknüpfen und den Blick auf Fragen politischer Partizipation richten, die sich in der Lausitz im Zusammenhang mit dem bevorstehenden regionalen Strukturwandel stellen. Meine Hoffnung ist, dass sich Lehre und Forschung dabei gewinnbringend verbinden lassen.

Das kommende Wintersemester soll wieder vollständig in Präsenz stattfinden, sofern es die Pandemie zulässt. Was erwarten Sie von der Zusammenarbeit mit Ihren Studierenden vor Ort?

Erstmal bin ich einfach neugierig auf die Studierenden, ihre Ideen und Themen! Ich freue mich auf das Kennenlernen, für das Präsenzlehre natürlich sehr viel bessere Bedingungen bietet. Hoffen wir, dass es möglich sein wird.

Kriminologie, Radikalisierung sowie Demokratieförderung im Strafvollzug auf der einen und Computerspiel-Abhängigkeit und ethnografische Praxisforschung auf der anderen Seite. Die Bandbreite Ihrer bisherigen wissenschaftlichen Abhandlungen klingt spannend und vielseitig. Woher kommt Ihr Interesse an diesen Themen?

Im Grunde sind meine Forschungsthemen verbunden durch ein grundlegendes Interesse an der gesellschaftlichen Hervorbringung sozialer Probleme und ihrer Bearbeitung. Dabei habe ich lange biografisch geforscht, also zum Beispiel nach den Bedingungen der Entstehung und Verfestigung devianten Verhaltens gefragt – in meiner Dissertation etwa am Gegenstand abhängiger Computerspielpraxis, später auch am Beispiel von Personen aus dem Ausland, die in Deutschland für Wohnungseinbrüche inhaftiert waren. In den vergangenen Jahren hat sich im Zuge meiner Forschungen zum Phänomen der Radikalisierung und der Radikalisierungsprävention mein Interesse stärker verschoben: in Richtung der gesellschaftlichen, auch diskursiven Hervorbringung sozialer Problemkategorien, der Folgen dieser Problematisierungen für die betroffenen Gruppen, aber auch der professionellen (sozial-)pädagogischen Bearbeitung dieser Probleme.

In einem Ihrer wissenschaftlichen Vorträge gehen Sie der Frage nach: Wie kommt man in qualitativen Forschungsprojekten von der Forschungsidee zur Theoriebildung? Haben Sie als Expertin für Methoden empirischer Sozialforschung eine schnelle Antwort gefunden?

Da muss ich Sie leider enttäuschen. Einen schnellen und einfachen Weg kann es nicht geben. In qualitativer Forschung braucht es eine gewisse Leidensfähigkeit, denn qualitatives Forschen ist harte Arbeit und oft ein intensives und zirkuläres Ringen mit den Daten. Häufig sind aber gerade die Umwege und vermeintlichen Störungen am Ende erkenntnissfördernd. Es ist ja gerade das Prinzip qualitativer Forschung, dass sie offen und sensibel ist für die Eigenlogiken des beforschten Feldes ist – immer bereit, eigene Vorannahmen angesichts der empirischen Wirklichkeit nochmal zu revidieren. Verbindet man mit qualitativer Forschung zudem den Anspruch, auch zur Theoriebildung etwas beizutragen und nicht nur schöne Geschichten oder reine Deskription zu liefern, erfordert sie auch den Mut, sich von den konkreten Daten zu lösen und den Sprung in die Abstraktion und zur Generalisierung zu wagen. Die gute Nachricht ist: Qualitativ-rekonstruktiv zu forschen macht auch unglaublich Spaß! Und man sollte es einfach wagen, denn qualitative Forschungsmethoden lernt man am besten, indem man sie einübt, idealerweise in Forschungswerkstätten und im Austausch mit erfahreneren Kolleg*innen.

Welche Erkenntnis aus Ihrer bisherigen akademischen Laufbahn hätten Sie gern schon zu Beginn Ihrer Ausbildung gehabt und würden sie nun Ihren Studierenden weitergeben?

Am Institut für Kulturwissenschaften der Uni Leipzig hatte ich das große Glück, in einem akademischen Umfeld sozialisiert zu werden, dass den Studierenden in der Auseinandersetzung mit den Inhalten zwar stets einiges abverlangt aber zugleich auch viel zugetraut hat. Eine solche Ermöglichungslogik, das ist mir erst später bewusst geworden, ist nicht selbstverständlich. Diese Erfahrung, in eigenen Ideen und deren Umsetzung bestärkt zu werden und sich konstruktiv reiben zu können, möchte ich gern auch hier den Studierenden ermöglichen.

Was haben Sie am meisten an Ihrer Heimat vermisst?

Jedes mal, wenn ich zu Besuch in der Heimat war, wurde mir wieder bewusst, wie schön es hier einfach ist. Die abwechslungsreiche Landschaft, die Badeseen, das Gebirge mit seinen beeindruckenden Felsformationen… Und es ist natürlich schön, jetzt wieder näher an der Familie zu sein, auch für meine Kinder, die ihre Omas und Opas nun viel öfter sehen als früher. 

Und was wünschen Sie sich für Ihre Heimat?

Mein Wunsch ist, dass die Region ihr Trauma des für viele biografisch schwierigen Nachwende-Transformationsprozesses überwinden, die positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre ins Zentrum rücken und den anstehenden Strukturwandel als Chance begreifen kann. Es steht ja nicht nur ein enormer wirtschaftlicher Wandlungsprozess bevor, sondern auch ein gesellschaftlicher, der nicht weniger herausvorderungsvoll ist. Ich wünsche mir sehr, dass es gelingt, diesen Prozess partizipativ zu gestalten, Polarisierungen und Spaltungen entgegenzuwirken und ein demokratisches, solidarisches Miteinander vor Ort zu stärken.

Das Gespräch führte Cornelia Rothe M.A.

Prof. Nadine Jukschat
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