Meldungsdetails

20. Februar 2020

Kein Grund für Tränen

Raj Kollmorgen im Gespräch mit der ZEIT. Ein Gespräch über Thüringen, den Westen und die Lehren dieser Wochen. (Die Zeit, 20.02.2020)

DIE ZEIT: Herr Kollmorgen, ganz Deutschland war in den vergangenen zwei Wochen außer Rand und Band – wegen Thüringen. Hätten Sie geglaubt, dass das mal passieren könnte?

Raj Kollmorgen: Es ist schon ein großes Theater, das wir da besichtigen konnten. Das eine oder andere Mal dachte ich: Politik hat, so ernst sie für uns alle ist, wirklich Unterhaltungswert. Gerade jetzt, nach der neuesten Volte und den Debatten, wer möglicherweise Übergangs-Ministerpräsident werden könnte. Natürlich bewegt mich diese Geschichte sehr. In der Frage, wer die Verantwortung trägt, kam mir bisher eine Seite zu kurz.

ZEIT: Welche?

Kollmorgen: Was sich die Linke, die Grünen und die SPD in Zusammenhang mit Thomas Kemmerichs Wahl geleistet haben, sollten diese drei Parteien durchaus mal selbstkritisch reflektieren. Der linksliberale Diskursraum hat sich mit seinen Anklagen auf CDU und FDP fokussiert ...

ZEIT: ... denn diese beiden Parteien haben, gemeinsam mit der AfD, Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt.

Kollmorgen: Und dafür haben sie allen Protest verdient. Aber vergessen dürfen wir nicht, dass in Thüringen ein rot-rot-grünes Bündnis ohne eigene Mehrheit in eine Ministerpräsidentenwahl gegangen ist. Mehr noch: Man hat ohne diese eigene Mehrheit schon Ressorts verteilt und einen Koalitionsvertrag geschlossen, ganz so, als könnte man doch im Wesentlichen allein entscheiden, wie in Thüringen in den kommenden fünf Jahren Politik gemacht wird.

ZEIT: Konnte man aber nicht.

Kollmorgen: Konnte man natürlich nicht – wie sich gezeigt hat. Offenbar haben CDU und FDP es als Zumutung empfunden, als Arroganz der Macht, dass schon Posten vergeben waren, ehe man einen Ministerpräsidenten gewählt hatte. Es mag ja sein, dass die Linke sich vorab intensiv bemüht hatte, mit der CDU in Gespräche zu kommen. Aber wenn es partout nicht klappt, dass man sich einigt – dann kann man nicht in eine Abstimmung gehen, als wäre eine faktische Tolerierung selbstverständlich. Es war ein Hasard-Spiel. Die drei Koalitionäre sind sehenden Auges ins Risiko gegangen und bestraft worden.

ZEIT: Zeigt das nicht einfach, wie verfahren die Lage ist? Ist die Demokratie in Gefahr?

Kollmorgen: Der politische Betrieb ist jedenfalls in eine Lage geraten, die er vorher nicht kannte. Oder: die viele nicht wahrhaben wollten. Wir sehen jetzt, dass im Osten eine Parteienlandschaft und eine politische Kultur gewachsen sind, die sich vom Mainstream der Bundesrepublik fundamental unterscheiden. Und da reden wir nicht nur über Mehrheitsverhältnisse, sondern auch darüber, wie man Parlamentarismus und Demokratie interpretiert. Das, was in Thüringen zu erleben war, bedeutet den wirklichen Endpunkt der Bonner Republik.

ZEIT: Ist die nicht schon länger vorbei?

Kollmorgen: Dass der Osten anders ist als der Westen, hat sich vielfach angedeutet. Aber was jetzt in Thüringen passiert, erschüttert eben nicht mehr nur Thüringen, sondern mindestens CDU und FDP in ganz Deutschland. Im Osten erleben wir das Ende des Anfangs: Nach dem Umbruch hatten wir eine erste Konsolidierung ab Mitte der Neunziger; wir hatten die spektakulären Wahlergebnisse für extreme Parteien Anfang der 2000er-Jahre. Jetzt ist die Umwälzung vorangeschritten, mit einer etablierten Linken, einer 25-Prozent-AfD – und den klassischen westdeutschen Parteien. Die werden zerrieben zwischen den Interessen der westdeutschen Zentralen und ostdeutschen Eigensinnigkeiten.

ZEIT: Im Westen sind die Verhältnisse stabiler.

Kollmorgen: Ich bin mir nur nicht sicher, ob das so bleiben wird. Und ob die Ahnungslosigkeit, mit der viele reden, die in der Republik den Ton angeben, hilft. Bei Anne Will fragte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, ob man es akzeptieren könne, wenn ein Landesteil sich politisch permanent anders verhält. Und er sagte, die Linke verhalte sich weiter unkritisch zum Staatssozialismus.

ZEIT: Sie hat noch alte Kader in ihren Reihen.

Kollmorgen: Man kann viel Kritisches über diese Partei sagen. Aber dass sie sich nicht mit ihrer DDR-Vergangenheit schmerzhaft auseinandergesetzt habe, ist schlicht falsch. Westdeutsche Parteigranden schauen immer noch auf die Linke wie auf ein Rätsel. Und jetzt überträgt man dieses Denken und diese Rhetorik auch auf die AfD: Man behandelt beide als unpassende, verstörende Fremdkörper, als systemfremd. Damit behandelt man aber ungewollt auch den Osten als nicht dazugehörig. Wir stellen nach 30 Jahren fest: Der Osten ist immer noch politischer Appendix. Ab und zu regen sich alle auf, aber er bleibt doch ein Anhängsel. Zugleich merkt der Westen, dass auch seine Gewissheiten erschüttert werden. "Das Ost-Problem wurde lange genug kleingeredet"

ZEIT: Vielleicht bleiben die alten Bundesländer ja verschont von einer überstarken AfD.

Kollmorgen: Warten wir es mal ab. Die SPD schrumpft bekanntlich auch im Westen flächendeckend, und die CDU befindet sich offenkundig in einem konfliktreichen Umbruch.

ZEIT: Sollte die Bundes-CDU der Thüringer CDU freistellen, ob sie mit den Linken koaliert?

Kollmorgen: Das kann sie natürlich nicht einfach, weil das die Integration der Partei aufs Spiel setzte. Was aber nicht mehr zu funktionieren scheint, ist die autoritäre Ansage aus Berlin. Vielleicht lernen es die Parteizentralen jetzt auf die unangenehme Tour: Das OstProblem wurde lange genug kleingeredet.

ZEIT: Nun verlieren sie den Zugriff auf den Osten?

Kollmorgen: Da bin ich Schüler Max Webers. Es gibt eine mittlere Funktionärsschicht, ohne die keine Herrschaft und Demokratie funktioniert. Zwischen Parteivolk und Führungsspitze steht auch die CDU-Fraktion Thüringen. Gegen die und gegen diese Ost-Kreisverbände geht in dieser Frage nichts.

ZEIT: Führung heißt: Leute von der eigenen Sache zu überzeugen.

Kollmorgen: Ja, aber eben nicht durch Zwang. Im Westen funktionieren noch politischkulturelle Disziplinierungsmaßnahmen, weil sich die meisten an eingeübte Regeln und Kulturen halten. Im Osten gibt es eine andere Kultur – auch der Renitenz. Damit werden die Parteispitzen sich künftig wohl noch stärker herumplagen müssen. An der eher kindischen Idee, nach Erfurt zu fahren und die Leute einzutakten, ist Annegret Kramp-Karrenbauer ja sichtbar gescheitert.

ZEIT: Ist das ostdeutsches Selbstbewusstsein, wie Sie es gut finden?

Kollmorgen: Ob ich das gut finde, ist nicht wichtig. Solche Order von oben unterhöhlt aber den demokratischen Prozess im Osten. Nach dem Motto: Wir interessieren uns zwar das ganze Jahr nicht ernsthaft für euch, aber wenn es hart auf hart kommt, zählt unsere Autorität. Daraus entsteht Abwehr, Distanzierung, Entfremdung. Zuerst in den Apparaten. Und dann auch in der Bevölkerung. Und das hatten wir schon mal: Anfang der Neunziger. Da durften die ostdeutschen Parteifilialen auch nur exerzieren, was oben vorgedacht wurde.

ZEIT: Solche Order von oben hat Thüringens CDU schon kurz nach der Landtagswahl erlebt.

Kollmorgen: Ja, da versuchte Landeschef Mike Mohring, auf die Linke zuzugehen, und wurde aus Berlin zurückgepfiffen. Die CDU muss ihren Richtungsstreit moderieren. Es gibt jene Mitglieder, die unbedingt mit der AfD zusammenarbeiten wollen und die das mit inhaltlicher Nähe begründen. Und dann gibt es jene, die mit den Linken kooperieren wollen, aber eher aus inhaltlicher Opportunität; um das Land zu stabilisieren. Im Moment würde sich der AfD-Flügel, vermute ich, fulminant durchsetzen.

ZEIT: Daran könnte die Partei zerbrechen.

Kollmorgen: Aber auch der Weg einer Öffnung zur Linken ist schwierig. Thüringen war zu DDR-Zeiten eine – im Vergleich mit Brandenburg oder Sachsen-Anhalt – widerspenstige Region. Auch wegen der Grenzlage war das DDR-Herrschaftsregime schwächer als andernorts, der Widerstand stärker. Ohne Jena wäre die Friedliche Revolution nicht denkbar. Deshalb war nach 1990 hier die Frontlinie zwischen Linken und CDU besonders ausgeprägt. Ich glaube, das aufzuarbeiten, braucht Zeit.

ZEIT: Vielleicht löst man die ganze Lage jetzt sehr pragmatisch: Wenn jemand wie die CDU-Frau Christine Lieberknecht Übergangs-Ministerpräsidentin würde, es dann Neuwahlen gäbe, hätte man das Problem erst einmal umschifft.

Kollmorgen: Ich denke, wie auch immer man es jetzt einfädelt, dass Neuwahlen schnell kommen müssen. Ich habe schon kurz nach der Landtagswahl nicht verstanden, wieso man Neuwahlen zum Tabu erklärt. Wenn sich Parteien nicht einigen können auf Koalitionen oder Tolerierung, sind Neuwahlen der einzig sinnvolle Weg. Wir verlangen immer, dass die Parteien nicht beliebig werden sollen – dann müssen wir aber, wenn es trotz allen Bemühens keine Schnittmengen gibt, auch damit einverstanden sein, dass sie sagen: Okay, das legen wir dem Wähler noch mal vor.

ZEIT: Auch nach Neuwahlen werden wir eine starke AfD erleben. Und die CDU könnte sich auch künftig im Osten zu ihr hingezogen fühlen.

Kollmorgen: Wir werden sehen, was sich durchsetzt. Michael Kretschmer in Sachsen fährt eine klare Anti-AfD-Linie und kann sie im Moment durchhalten, weil seine Partei damit einigermaßen erfolgreich ist. Vieles hängt davon ab, wie die AfD sich entwickelt. Niemand bleibt einfach für 20 Jahre Protestpartei. Vielleicht erschöpft sich ihr Erfolg, vielleicht verliert sie bald wieder diese faktische Sperrminorität, über die sie mit ihren 25-Prozent-Ergebnissen verfügt. Vielleicht merkt die AfD auch, dass sie mit Theateraufführungen wie jetzt in Thüringen sich selbst schadet. Ihr Erfolg ist jedenfalls auch nicht in Stein gemeißelt. 

Interview: Martin Machowecz

Foto: Prof. Dr. phil. habil. Raj Kollmorgen
Prof. Dr. phil. habil.
Raj Kollmorgen
Fakultät Sozialwissenschaften
02826 Görlitz
Furtstraße 2
Gebäude G I, Raum 2.17
2. Obergeschoss
+49 3581 374-4259