Prof. Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz über Willkür-Vorwürfe, Misstrauen und Verlustängste. (LVZ, 22.04.2020)
Leipzig/Zittau. Kritiker der Corona-Schutzmaßnahmen aus dem Oberlausitzer Bergland protestieren besonderslaut mit Petitionen und offenenBriefen gegen die Schritte der Regierenden. Der SozialwissenschaftlerRaj Kollmorgen von derHochschule Zittau/Görlitz mit Professurfür Management des sozialen Wandels hat dafür eine Erklärung.
Im Oberlausitzer Bergland gibt es eine größer werdende Initiative, die insozialen Netzwerken von einer "Willkürder Exekutive" und einem drohendenRückfall in den "totalitären Modus"fabuliert. Wie finden Sie das?
Darüber, ob alle ergriffenen Schutzmaßnahmender Exekutive gegendie Pandemie ausreichen - oder zuweit gehen - kann, ja muss man diskutieren. Und diese Debatte wirdgeführt, quer durch alle Bevölkerungsschichten,wissenschaftlichenInstitutionen und politischen Lager. Auch ich teile längst nicht alle Beschränkungen, etwa für Gottesdienste, kleinere Demonstrationen oder Bibliotheken. Aber die These,dass die Exekutive die Pandemienutzt, um selbstgefällig ihre Machtauszubauen oder Teile der Wirtschaft unbegründet lahmzulegen, ist absurd.
Warum?
Der Staat lebt bekanntlich von den Steuereinnahmen und hat daher ein ureigenes Interesse, dass die Wirtschaft- vom Blumenladen bis zum Automobilgiganten - läuft. Argumente, warum Politiker plötzlich motiviert sein sollten, Selbstständigeund Kleinunternehmer ihrer beruflichen Existenz zu berauben, werden in den Aufrufen der misstrauischen Bürger nicht angeführt. Sie wären auch hochgradig irrational. Eine zivilgesellschaftliche Debatteüber die gegenwärtige Beschneidung der Bürgerrechte wie die Versammlungsfreiheit ist erlaubt und demokratisch geboten. Wenn aber die Politik der Bundes- und Staatsregierung mit einem - Sie sprachen es an - "totalitären Modus" des Verwaltungshandelns in der DDR verglichen wird, dann driftet die Diskussion in eine verstörende
Richtung. Wer die Pandemie-Abwehr heute mit dem autoritärenStaatsgebaren vor 1989 gleichsetzt, vergleicht Äpfel mit Birnen.
Was hinkt an dem Vergleich am meisten?
Bei den aktuellen Einschränkungen geht es nicht um paternalistische Bevormundung oder Machterhalt einer Politbürokratie, sondern um akuten Gesundheitsschutz im Interesse der Bevölkerung. Dabei auf die DDRVergangenheit anzuspielen, so als läge die Wiederkehr eines undemokratischen Herrschaftsregimes in der Luft, halte ich für abwegig. Den politischen Akteuren der Bundesrepublik oder des Freistaates vorzuwerfen, sie setzten sich nicht intensiv und auch kritisch mit der Bürgerrechtsbeschneidung auseinander, ist schlicht Unsinn. Für einen wirklich autoritären Umgang mit der Krise empfehle ich den Blick nach China oder Russland.
Hat Sie diese geballte Renitenz im Dreiländereck überrascht?
Nicht wirklich. Das grundsätzliche Misstrauen größerer Bevölkerungsgruppen gegenüber politischen Institutionen und ihren Eliten besitzt in abgelegenen und strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands eine lange Tradition. Das gilt im besonderen Maße für die ländlichen Grenzregionen, die zu DDR-Zeiten vielfach vernachlässigt wurden und in denen das Herrschaftsregime der DDR brutaler als anderswo agierte. Facetten dieser Mentalität haben die Vereinigung überlebt und sich mit neuen staatskritischen Bewegungen verbunden. Nicht zuletzt die Wahlerfolge der AfD in Ostsachsen, aber auch im Erzgebirge oder im nördlichen Anhalt, verdeutlichen die Stärke rechtspopulistischer Strömungen, für die der Gegensatz zwischen sogenannten „etablierten Eliten“ und dem Volk eine tragende Überzeugung ist.
Stecken dahinter auch Verlustängste?
Ja. In den strukturschwachen Regionensind die Einkommen undVermögen der meisten Menschenkleiner und wurden weniger Rücklagen gebildet. Entsprechend größersind Unsicherheit und Enteignungs-oder sogar Verarmungsängste.Das ist aber schon mehr alsein dumpfes Gefühl, oder? Sicher ist im ländlichen Raum auchin den zurückliegenden drei Jahrzehnteneiniges schiefgelaufen. Darüberwird angesichts des neuenStrukturwandels gerade intensivgestritten. Über Versäumnisse inder Vergangenheit wie über die Herausforderungender Zukunft müssenwir reden, demokratisch verhandelnund entscheiden. PolitischeFehler in den letzten 30 Jahrenaber zu Staatswillkür umzudeuten,die sich jetzt auch in der Corona-Krisezeigt, bleibt falsch.
Interview: Winfried Mahr